"So und nun für heute genug..."
  Eindrucks- und wundervolle Kindheitserinnerungen von A .Saweljew (bearb.G.Oberle)

Onkel Fedja nannten wir einen alten Mann, der uns von Zeit zu Zeit Eier, Honig und Ziegenkäse brachte. Braungebrannt, mit weißem buschigem Bart, immer in Wildleder angezogen, roch der Onkel nach Wald und Honig.
Es hatte begonnen, das unglückliche Jahr 1933. In Kiew, am Straßenrand da und dort lagen Leichen von Erfrorenen und Verhungerten und Regierungsbeamte verschleppten alles, was keine Schwielen an den Hän - den hatte auf Nimmerwiedersehen!
Da kam der Onkel, aber gebracht hatte er diesmal nichts. Es sei gefährlich, sagte er, es seien von der Miliz schon Menschen wegen Kartoffeln erschossen worden, die man in Manteltaschen in die Stadt schmuggeln wollte.
Der Onkel war wegen mir gekommen. "Dein Vater scheint verhaftet zu sein, und wenn es so ist, dann wird man auch bald deine Mutter abholen, aber dich wollen wir retten", sagte er.
Und der Onkel brachte mich aus Kiew weg. Wir fuhren mit dem Zug etwa 80km zum Dorf Irpen, einer Wald- und Torfsumpfgegend. Von dort gingen wir zu Fuß stundenlang durch gefrorene Moore und dichten Mischwald.
Onkels Einsiedelei stand an einem Flüsschen mitten im Wald. Es waren eine Holzhütte und einige kleine Scheunen. Im Hof wimmelte es von Puten, Gänsen, Enten, Hühnern und noch Vögeln, die ich kannte. Zwischen bunten Vogelvolk im dreckigen Schnee waren noch einige auch bunte Ziegen zu sehen.
Über das alles herrschte ein Kranich, der schon seit Jahren als Aufpasser angestellt war. Er sorgte für Ord- nung zwischen den Federgenossen, beschützte sie vor sämtlichen Raubtieren. ja sogar die großen Raubvögel hatten vor seinem riesigen Schnabel Respekt.
So hatte es begonnen, ein wunderbares Spiel in Robinson, wo ich als dreizehnjähriger Stadtjunge den Freitag spielte.
Onkel Fedja konnte herrlichen Buchweizen mit Pilzen kochen und duftenden Honigkuchen backen. Die Ziegen gaben uns Milch und Butter und im Fluss konnte man Fische auch mit Händen fangen.
Eines Tages reparierte Onkel Fedja alte Bienenstöcke, die aus einem Stumpf geschnitzt waren., und ich durfte die Risse und Spalten mit heißem Wachs zupinseln. Da wurde das Wachs knapp und der Onkel schickte mich in die Hütte welches holen, dort hinter dem Schrank in der großen Kiste. Hinter dem Schrank waren zwei Kisten, die waren gleichgroß.
Ich machte die erste auf, sie war voller Ikonen, in der zweiten Kiste war das Wachs. Am Abend sagte ich dem Onkel, dass ich die Ikonen gesehen habe und bat ihn, mir über Ikonen zu erzählen.
Damals in Russland war alles, was mit Kirche zu tun hatte, verboten. Die Kirchen oder kirchlichen Räume waren abgerissen oder als Lager, Kinos und Fabriken umgebaut. Die Priester, Nonnen, Mönche und viele Gläubige waren zu Millionen umgebracht oder nach Sibirien verschickt worden. Die Ikonen waren auch verboten, und wenn bei jemanden welche gefunden wurden, so war dies ein sicherer Fahrschein
ohne Rückfahrkarte.
"Gut", sagte Onkel Fedja, "aber wenn Du was nicht verstehst, gleich fragen. Diese Ikonen sind deine Familien- ikonen. Als deine Großmutter aus ihrem Haus vertrieben wurde, durfte sie nur mitnehmen, was sie tragen konnte. Sie hat nicht Schmuck oder Pelz mitgenommen, nein, sie hat zwei Koffer voll Ikonen gerettet und ich
sollte sie verstecken."

"Und warum sind die Ikonen so wertvoll", wollte ich wissen. Onkel schürte den Ofen und tat frisches Holz hinein und vor seiner Gottesmutter-Ikone zündete er eine Kerze an und bekreuzigte sich. "Es ist so", sagte er und setzte sich mir gegenüber, "du hast die Eisenbahn gesehen, unser allgütiger Gottvater ist der Bahnhof, alle Züge fahren zu einem Ziel, nach Hause heim zum Vater. Die Lokomotive ist Gottes Sohn Jesus Christus,
nur durch ihn können die Züge sich in Richtung heim bewegen. So ist es, klar?
Aber der Bahnhof, die Lokomotive, die Waggons sind sinnlos für uns ohne die Gleise. Erst die Eisenbahn- schienen verbinden alles zusammen und das ist die gemeinsame Liebe. Ohne Liebe ist die Bewegung nicht gut möglich und ohne Liebe kann uns Jesus Christus schlecht heimbringen."
"Und was ist mit dem Glaube", fragte ich. "Der Glaube ist ohne Liebe zu nichts nütze", antwortete Onkel Fedja.
"Schau dir die Heiden und Juden an, sie glauben alle an denselben Gott wie wir auch, aber sie kennen Jesus Christus nicht oder nicht genügend oder wollen ihn nicht als den annehmen, der er ist. Mit Jesus Christus ist es so: Wenn man ihn kennt, muss man ihn lieben, anders kann es nicht sein. "Ja", fuhr Onkel Fedja fort, "Jesus Christus muss man kennen, hast du das begriffen?"
"Und die Ikonen", fragte ich stur wieder. "Damit Gottes Eisenbahn in Schwung bleibt, hat unser allgütiger Vater noch den Heiligen Geist gesendet und gründete Christi Verein, den Verein der Liebe, der Freude und Gnade, den Verein der Geretteten! Und das ist unsere heilige Kirche des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und damit wir den Zug nicht verschlafen, haben wir einen Fahrplan erhalten, das sind: Die heilige Schrift und die Ikone, sie beschreiben uns die ganze Heilsgeschichte, die Sakramente, die uns die Gnade des Heiligen Geistes gegeben, die Heiligen, die mit uns und für uns beten und ein Beispiel der Liebe sind und die Liturgie, damit alles zur Erkenntnis Jesus Christus führt. So und nun für heute genug", sagte Onkel Fedja, "du bist schon recht müde, wir beten noch zusammen.
Onkel Fedja kniete vor der Ikone und ich auch.

"Herr, Jesus Christus, Sohn Gottes, sei uns Sündern gnädig. Nimm uns mit in deinen Zug, nimm auch die, die dich nicht kennen und auch die, die dich nicht kennen wollen mit!"